Brief an meine Angst

Brief an meine Angst

Liebe Angst,

Ich kann mich so gut erinnern, wie du mich bei meiner ersten Reise ganz allein begleitet hast. Wir waren zusammen zum Flughafen unterwegs, du warst sehr präsent, ich habe eigentlich nichts anderes mehr wahrgenommen als dich. Ich habe die ganze Zugfahrt daran gedacht, dass ich vielleicht gar nicht aus Thailand zurückkommen würde weil es dort so gefährlich ist. Ich habe an alles gedacht, was mir so oft eingeredet wurde und war kurz davor, doch nicht ins Flugzeug zu steigen.

Was wäre bloß aus mir geworden, hätte ich damals auf dich gehört? Du hättest Recht behalten, Thailand wäre für mich immer dieser fiese, gefährliche Ort geblieben, voll mit Kakerlaken, Tsunamis, Vergewaltigern und Krankheitserregern.

Du wärst weiter in mir gewachsen und immer stärker geworden, je mehr ich auf dich gehört hätte. Ich wäre völlig in dir versunken. Ich hätte jeden für verrückt erklären müssen, der danach zu einer Thailandreise aufbricht, um mein eigenes Handeln zu rechtfertigen. Zum Glück bin ich ins Flugzeug gestiegen.

Die sicherste Form, dich loszuwerden war, mitten in dich reinzuspringen.

Zu einer Reise aufzubrechen, von der ich nicht genau wusste, ob ich zurückkommen würde. Als ich das gemacht habe, als ich dich ganz genau anschauen konnte, konnte ich dich definieren. Ich war so lange allein mit dir unterwegs, ohne mich von dir ablenken zu können.

Dir zu begegnen, dich kennenzulernen, war ein wichtiger Schritt. Ich habe die Dinge, vor denen ich so große Angst hatte, immer wieder getan. Weil mir nichts anderes übrig blieb. Reisen hat mich von vielen meiner Ängste geheilt. 

Liebe Angst, ich weiß, dass du eigentlich ein Schutzmechanismus bist. Dass es Situationen gibt, in denen ich wirklich auf dich hören sollte. Bestimmt hast du mich vor viel Schlechtem bewahrt und dafür bin ich dir dankbar.

Ich will dich nicht ganz verlieren, ich will nur lernen, mit dir umzugehen. Denn ich weiß, dass Mut nicht die Abwesenheit von Angst ist, sondern nur der Glaube daran, dass es etwas Wichtigeres, Höheres gibt als die eigene Angst.

Manchmal wirst du mir einfach zu mächtig. Ich habe das Gefühl, dass die Angst anderer Menschen wie ein Wachhund ist, der zum Schutz bellt, wenn es gefährlich wird. Bei mir wütet anstelle des Hunds ein fünfköpfiger Drache. Er ist wild und hört nicht auf Kommandos, er speit Feuer in alle Richtungen und merkt nicht, dass er dabei vor allem mich selber trifft.

Was ist das für ein Schutzmechanismus, wenn ich mich vor ihm fürchten muss? Wenn ich Angst vor meiner eigenen Angst habe.

Liebe Angst, nachdem ich mich dir einmal gestellt hatte, hattest du weniger Macht. Inzwischen stelle ich mir dich wie eine Art Dunkelheit vor. Dunkelheit ist nur die Abwesenheit von Licht, Dunkelheit existiert nicht selbst, das wusste schon Einstein. Man kann einen dunklen Raum mit einer winzigen Taschenlampe erhellen aber andersrum keinen hellen Raum verdunkeln, indem man einen Eimer Dunkelheit reinwirft. Ich glaube, dass auch du nicht existent bist, ich glaube, du bist nur die Abwesenheit von Mut und Selbstvertrauen. Angst haben bedeutet nur, dass man jemand oder etwas zu viel Macht über sich eingeräumt hat. Wenn ich etwas Macht über mich geben kann, kann ich selbst diese Macht auch wieder nehmen. Es liegt also nur an mir. Du bist nichts als eine Einbildung, die ich mir selbst erschaffen. Deshalb werde ich ab heute weniger Angst vor dir haben.

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