Es gibt im Leben so viele Fluchten von der Wirklichkeit in die Einbildung; Alkohol, Drogen, einfache politische Wahrheiten, Fernsehen, Probleme verdrängen statt besprechen.
Das alles sehen wir als völlig legitim und normal an.
Nur als Reisende bekam ich immer wieder den Vorwurf, ich würde vor der Realität weglaufen. Manchmal wurden meine Kritiker noch konkreter und sagten, auch ich müsse irgendwann zur Vernunft kommen und Semesterferien nicht mehr für Reisen sondern Praktika nutzen. Und dass auch mein Leben ja nicht ewig so weitergehen könne, eines Tages werde ich mich mit dem normalen Berufsleben abfinden müssen wie jeder andere.
Ich bin mir heute ganz sicher; Alleinreisen ist keine Flucht vor dem Leben. Wer reist, dem kommt das Leben in geballter Form entgegen. Auf Reisen gibt es keine Möglichkeit, sich zu verstecken, zurückzuziehen.
Wenn mit „Leben“ das geregelte Leben mit Festanstellung, Familie und Haus gemeint ist, dann laufe ich gern davor weg, so weit ich kann.
Wenn wir uns nicht wehren, wird unser komplettes Leben vorgefertigte Routine. Wir müssen der Masse dazu nichtmal aktiv folgen, sie beeinflusst uns so, dass wir ihren Willen irgendwann für unseren eigenen halten. Ich will hier nicht sagen, dass Festanstellungen grundsätzlich schlecht sind aber ich kenne viele Menschen, die durch ihr Leben laufen und sich fühlen, als hätte es jemand anders geplant.
Ich finde, das Mitlaufen in der Masse ist viel eher eine Flucht vorm Leben als das Alleinreisen.
Ich habe viele Menschen getroffen, die das aufgebaut hatten, was wir als „ordentliches Leben“ bezeichnen. Sie hätten das als Identität annehmen können, sagen können, das bin jetzt ich, gut bezahlter Job, Sicherheit, Routine. Sie haben aber geahnt, dass das nicht alles sein kann, sie haben sich sozusagen gefragt: Wer bin ich denn noch?
Das kann man nun mal am besten ausprobieren, wenn man nicht von Menschen umgeben ist, die meinen, einen zu kennen.
Denn das Problem ist immer; wir werden von dem geprägt, was uns umgibt. Der Mensch ist die anpassungsfähigste Spezies und das hat uns evolutionstechnisch sehr weit gebracht aber es kann uns auch zum Verhängnis werden. Wir sind immer ein Produkt unserer Mitmenschen, Medien, Umwelten. Auf Reisen werden wir zu dem, was wir noch sein könnten, wenn man an genau diesen Stellschrauben dreht.
Wir haben Angst vor unserer eigenen Zeit. Angst vor Stille, vor Leerlauf, Angst, uns selbst zu sehr zu begegnen. Wir füllen unserer Zeit mit sinnlosen Dingen, Arbeit, die uns nicht inspiriert, Shopping, Saufen und Party am Wochenende. Je länger wir das tun, desto größer wird unsere Angst, uns bewusst zu werden, wie sinnbefreit unser Leben geworden ist. Weil uns genau das unbewusst klar ist, halten wir so hartnäckig an unseren alten Gewohnheiten fest. Bekanntes Elend ist uns lieber als eine vielleicht bessere Ungewissheit.
Als ich den Film „into the Wild“ sah, erwischte ich mich bei diesem Gedanken: Der Titelheld war zwar auf tragische Weise umgekommen, aber in einem normalen Leben, das nach dem Uni Abschluss gekommen wäre, wäre er da nicht auch auf eine Art gestorben? Seine wunderbaren Gedanken wären in der Monotonie des Alltags verendet, er wäre in Gleichgültigkeit ertrunken und in den Belanglosigkeiten des Alltags wie das so viele von uns tun. Für mich wird auch das immer eine tragische Art zu Sterben sein.
Ich denke, man kann nicht vor sich selbst weglaufen, wenn man allein unterwegs ist. Dazu verbringt man zu viel Zeit mit sich selbst. Wer sich selbst nicht ertragen kann, für den wäre das der direkte Weg in die Hölle.
Wir haben wohl alle schonmal einen Mitreisenden getroffen, der unterwegs war, „um sich selbst zu finden“. Ich habe sie lange als Spinner abgetan und nicht ganz ernst nehmen können. Als ich endlich anfing, ihnen zuzuhören, habe ich verstanden: diese Menschen lassen sich von der ganzen Welt Klarheit für das eigene Leben geben. Sie laufen nicht vor sich selbst weg, sondern stattdessen mittenrein in ihre Identität und ihre unentdeckten Fähigkeiten.